MARKTTAG IN LUMINAS
( Leseprobe )
Nachdem sie ein weiteres Mal ohne Erfolg die Kategorie Naturkunde durchsucht hatte, fand sie das gesuchte Werk im Bereich Geschichte. Es gab jedoch ein Problem mit dem Buch: Es stand im obersten Fach des Regals und lachte Amriss hämisch mit seinem feurig-roten Einband an. Sie war schlichtweg zu klein, um es zu erreichen. Selbst auf Zehenspitzen und mit ausgestrecktem Arm berührte sie nicht einmal das Regalbrett, auf dem es stand. Sie überlegte kurz, ob sie jemanden um Hilfe bitten sollte, der sich in der Bibliothek auskannte, doch entschied daraufhin, diese Hürde allein zu bewältigen.
Mit ihren Fingern suchte sie Halt auf dem obersten Regalboden, den sie erreichte und hob ihren rechten Fuß auf eines der unteren Bretter. So ein Bücherregal war wohl kaum schwerer zu erklimmen als eine Felswand. Amriss drückte zwei Bücher auseinander, damit ihre Hand besser zugreifen konnte, ehe sie ihren zweiten Fuß vom Boden löste und sich am Regal hochzog.
Der erste Klimmzug war noch unproblematisch, doch als sich Amriss auf die Höhe des besagten Buches anhob, spürte sie, wie ihr das Möbelstück entgegenkam. Schlagartig erinnerte sie sich, wie sie einst versucht hatte, einen morschen Baum zu erklimmen.
Amriss ließ los und fiel zurück auf ihre Füße. Mit einem lauten Rumpeln fiel auch das Bücherregal zurück in seine ursprüngliche Position. Lediglich einige Bücher drohten, ihr entgegenzustürzen. Sie presste sich mit dem Rücken gegen das Regal, spreizte die Arme auf, und blieb leise betend dort stehen, bis sie sich sicher war, dass ihr kein Wälzer mehr auf den Kopf fiel.
Amriss trat vorsichtig einen Schritt zurück und atmete erleichtert auf. Sie wollte gehen, als sie am Ende des Regals eine Gelehrte mit strengen Gesichtszügen stehen sah.
„Was war das für ein Geräusch?“, fragte die Frau. „Ist etwas zu Bruch gegangen?“
„Geräusch? Was für ein Geräusch?“, log Amriss und lächelte beschämt. „Ich habe nichts gehört.“
Die Fremde strafte sie mit einem verärgerten Blick.
„Sollte etwas beschädigt sein …“
„Es ist nichts beschädigt, versprochen.“
Amriss blieb so lange dort stehen, bis die Fremde ihr den Rücken zudrehte. Vielleicht sollte sie doch jemanden um Hilfe bitten. Allerdings nicht die Leute von der Bibliothek. Amriss eilte zu ihrem großen Bruder zurück. Dem Lioma-großen Bruder, der ohne Mühe eine Hand auf ein Regal legte.
„Teth! Kannst du mir helfen, ein Buch aus dem Regal zu holen?“, sprach Amriss ihn an.
Er saß immer noch an der gleichen Stelle am Tisch und las. Lediglich den Vorderlauf, mit dem er sich vom Boden abstützte, hatte er gewechselt.
„Ich bin beschäftigt, Amriss“, antwortete er.
„Ich weiß das, aber ich brauche trotzdem deine Hilfe. Komm schon. Es dauert wirklich nicht lange.“
„Das hier ist äußerst interessant, weißt du?“, murmelte er, und sah auch weiterhin nicht von dem Buch auf.
„Sag mir bitte, dass du etwas über das Gerät gefunden hast“, bat Amriss teils ihn, teils sich selbst, und lehnte sich über den Tisch, um mitzulesen.
Bereits zur Zeit von Seekönigin Vinetta setzte man Wasserräder (Abb. 12b) ein, um Energie aus der Strömung nahe von Illustras Mündung zu gewinnen. Diese Form der Energie war seinerzeit rein kinetisch …
„Das hat überhaupt nichts mit dir oder dem Gerät zu tun!“, schimpfte Amriss.
„Die Energiegewinnung in Luminas ist trotzdem sehr faszinierend. Jetzt setz dich noch einen Moment hin, ich helfe dir ja gleich.“
Amriss schnaubte empört. Sie war doch kein Kind mehr. „Wie gleich ist gleich?“, hakte sie nach, und, um ihn vom Lesen abzuhalten, griff sie nach dem Buch. Ihre Hand wurde jedoch von einer Pranke aufgehalten, die er über ihren Arm legte.
„Amriss“, warnte er sie mit einem leisen Knurren im Unterton seiner Stimme.
„Schon gut!“
Mit verschränkten Armen ließ sie sich auf den Stuhl neben ihm fallen. Wie viel aufdringlicher musste sie noch werden, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen? In der Hoffnung, dass gleich eben doch mehr jetzt als später bedeutete, wartete sie darauf, dass er sich ihr widmete. In der Zwischenzeit studierte Amriss, mangels anderer Beschäftigung, das Gesicht des Liomas.
„Hast du eigentlich schon gemerkt, dass du sogar Fell in deinen Ohren hast?“ Amriss streckte einen Finger nach dem fedrigen Rand einer Ohrspitze aus. Ihre Berührung war so sanft, dass sie einen Reflex auslöste, denn das Ohr schlug plötzlich zurück. – Genauso plötzlich, wie sich Teth von seiner Lektüre löste und sie gleichermaßen verwirrt und empört anschaute.
Im Gegensatz zu jedem anderen Vierbeiner, den sie je gesehen hatte, rieb er mit der Vorderpfote über sein juckendes Ohr.
„Musste das sein, Amriss?“
„Ja, vorausgesetzt, du willst das Fell nicht behalten, dann musste das sein. Hilfst du mir jetzt?“
Er setzte eben zu einer Antwort an, da wurden die Geschwister von dem aufdringlichen Räuspern einer fremden Person unterbrochen. Am Ende des Tisches stand die Frau mit dem strengen Gesicht, die Amriss zuvor beim Erklimmen des Bücherregals erwischt hatte. Sie war, zu Amriss’ Erstaunen, bis auf wenige Schritte an sie und den Lioma herangetreten, doch umklammerte mit ihren Händen ein Buch, als wollte sie es im Notfall wie einen Schild vor sich heben.
„Es tut mir leid, aber ich muss Euch auffordern, die Bibliothek zu verlassen“, verkündete die Fremde.
Amriss sprang von ihrem Sitzplatz auf.
„Ich habe doch gesagt, dass ich nichts beschädigt habe!“
Mit einem theatralischen Augenrollen und einem Seufzer drehte Teth ihr den Kopf zu.
„Was hast du gemacht, Amriss?“, fragte er.
Sie schnappte empört nach Luft.
„Nichts! Gar nichts!“
„Meinst du nichts so wie: Nein, ich habe kein Loch in das Dach meiner Hütte getreten?“
„Nein, ich meine mit nichts, dass ich alt genug bin, meine Probleme allein zu lösen!“
„Bist du dir da ganz sicher? Wozu brauchst du meine Hilfe nochmal?“ Die Schnauze, die er in Richtung ihres Gesichts streckte, schob sie mit einer Hand von sich weg.
„Weißt du, was ich brauche? Einen Bruder, der weniger blöde Kommentare von sich gibt!“
„Oh!“ Teth reagierte mit gespieltem Entsetzen. „Du kränkst mich, Amriss!“ Sein aufgesetzter Hundeblick brachte sie zum Schmunzeln.
„Es ist …“, begann die Bibliotheksaufseherin, doch zögerte. „Es ist nicht wegen des Regals.“
„Ist es nicht?“, fragte Amriss.
Teth neigte verwirrt den Kopf zur Seite. „Welches Regal?“
„Ich muss Euch auffordern, die Bibliothek zu verlassen, weil Eure Anwesenheit die anderen Besucher stört.“
Amriss lachte. Glaubte die Frau tatsächlich, dass sie ihr eine derart offensichtliche Lüge abkaufte? „Welche anderen Besucher? Die wenigen, die ich gesehen habe, haben sich nicht beschwert!“
Die Fremde wirkte mehr und mehr nervös. Vielleicht hatte sie nicht erwartet, dass Amriss darüber diskutieren wollte.
„Natürlich haben sich die Besucher nicht bei Euch beschwert. Davon abgesehen … Also … Wie soll ich das sagen?“
„Dann sollen sie sich eben beschweren!“, fiel Amriss ihr ins Wort. In Wahrheit ging es nur um Teths Erscheinungsbild, nicht wahr? Schon seit der Ankunft in Luminas ärgerte sie sich über die Reaktion der Menschen auf ihren Bruder. Da kam es ihr gerade recht, dass jemand das Thema ansprach. „Laut Gesetz haben wir ein Recht, hier zu sein! Fragt irgendeinen Soldaten, und er wird es Euch bestätigen!“
„Ihr habt ein Recht, Euch in der Stadt aufzuhalten, das stimmt.“ Das Buch, das die Frau bei sich trug, schien unter Amriss’ wütendem Blick aus ihren schweißnassen Händen zu gleiten. „Aber dieses Recht erstreckt sich nicht auf … auf einzelne Gebäude.“
„Ist das so? Dann macht es Euch sicher nichts aus, es mir zu beweisen!“, forderte Amriss sie auf. „Na los! Oder fehlt Euch der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen?“
Als sie einen Schritt vortrat, fühlte sie, wie sich eine Reihe von Pfotenballen um ihren Oberarm legte. Teth sprach beschwichtigend auf sie ein. „Bitte, Amriss. Ich will keine Schwierigkeiten. Lass uns einfach gehen.“
Ihre Blick begegneten sich, und der Zorn schien von ihr abzufallen. Aus Teths Gesicht las sie, wie sehr es ihn schmerzte, an diesem Ort des Wissens, trotz seines Intellekts, nicht willkommen zu sein. „Aber es geht hier um dich“, flüsterte sie zu ihm. „Wir brauchen diese Bücher.“
Er warf einen kurzen Blick zu der Aufseherin hinüber. „Wir kommen morgen früh wieder. Die Bücher werden nicht von hier verschwinden.“
Amriss schnaufte frustriert und griff hastig nach der sonderbaren Münze und dem Tuch, die noch auf dem Tisch lagen. „Schätzt Euch glücklich!“, blaffte sie die Frau an. „Glücklich, dass Teth so eine friedliebende Person ist!“
Teth sagte dazu nichts. Er zog sich langsam aus der Bibliothek zurück, und Amriss folgte ihm. Auf dem Weg hinaus drehte sie sich noch einige Male um, wodurch sie sah, wie die Bibliotheksfrau nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Hoffentlich fühlte sie sich schuldig, jemanden so harmlos und brillant wie ihn aus diesen Hallen verwiesen zu haben!
Viel früher als erwartet fanden sich die Geschwister vor dem Eingang des Bauwerks wieder. Ein kühler Wind wehte durch die Straßen, und Amriss rieb ihre fröstelnden Oberarme. Um die ein oder andere Stunde hatten sie sich dem Abend dieses Tages bereits genähert. Obwohl der Horizont hinter dem Mondpalast und den ihn umgebenden Häusern verschwand, erkannte sie ein zartes, rötliches Abendlicht im Himmel.
Teth sah zu dem doppelflügeligen Eingang des Gebäudes auf.
„Ich kann nicht glauben, dass ich ausgerechnet aus einer Bibliothek geworfen wurde.“
„Du hättest mir erlauben sollen, mich mit dieser Frau anzulegen“, murrte Amriss und stopfte die eingewickelte Münze tief in eine ihrer Taschen. „Die wollte dich doch nur loswerden, weil sie Angst vor dir hatte, nicht ihre Besucher!“ Ihre Empörung betraf ihn zwar nicht, doch sie spürte, wie Teth sie anstarrte und offenbar darauf wartete, dass sie damit fertig wurde, ihrer Wut Luft zu machen.
„Was ist?“
„Was hast du eigentlich angestellt?“
Sie legte die Hände auf die Hüften.
„Wirklich, Teth?“